Tomatendämmerung

Aber vielleicht hätten wir uns doch noch etwas genauer mit unserer Tomatenschutzvorrichtung auseinandersetzen sollen. Denn heute, Sonntag, folgt die große Enttäuschung. Als ich allein zum Beet komme (Sanne ist wegen ihres Fußes zu Hause geblieben), finde ich die Tomatenpflanzen von den Plastikkonstruktionen erschlagen vor.  Wahrscheinlich hat sie der Wind hin und hergeweht, bis die Stangenspitzen die Luftlöcher im Plastik fanden und alle drei Konstruktionen in sich zusammenfielen. Und dann klatschte noch eineinhalb Tage lang ordentlich Regen drauf.

Es ist die sonntägliche Sprechstunde, so dass bald Landwirt Sven Kötter neben mir steht. „Oh ja, die Tomaten“, sagt er mitfühlend, „das ist mir vorhin schon im Vorbeigehen aufgefallen.“ Aber es muss doch einen Weg geben…, denke ich und komme mir vor wie in einer dieser Arztserien, wenn Spezialisten und Angehörige in kritischer Situation ums Krankenbett herumstehen, während der Patient nur noch ein Röcheln von sich gibt. „Besteht noch Hoffnung?“, frage ich zaghaft. Doktor Kötter denkt nach. Dann schüttelt er mit ernstem Blick den Kopf. „Ist das das Ende?“

„Na ja, vielleicht können Sie es noch einmal versuchen.“ In meiner Vorstellung erklingt plötzlich hoffnungsvolle Orchestermusik. Ich horche auf. „Nehmen Sie diesen Plastikkram mal ganz weg, richten Sie die Pflanzen auf und binden Sie sie jeweils hier und hier an der Metallstange fest. Immer da, wo sich Zweige teilen, kommen Triebe heraus. Das sind die sogenannten Geiztriebe, die müssen sie entfernen, weil sie der Pflanze Energie rauben. Dann hoffen wir auf viel Sonnenschein und schauen mal…“

Das hört sich gut an. Und was ist noch zu tun? „Kommen Sie, ich zeig’s Ihnen. Der Kohlrabi muss raus, Sehen Sie, er ist hier und da schon geplatzt.“ In der Tat, unter den riesigen Blättern ragen voll ausgewachsene Kohlrabi hervor, meist in der Mitte gespalten. Die waren uns vorgestern gar nicht aufgefallen. Zum Glück kann man sie einfrieren, wie ich auf Nachfrage erfahre. „Auch die Zuckererbsen können Sie hier und da schon ernten“, sagt Herr Kötter weiter und zeigt auf die herabhängenden länglichen Schoten. Die hatte ich ebenfalls noch gar nicht wahrgenommen. „Dann dem Kohl etwas Luft geben“ – er rupft ein paar riesige violette Blätter heraus – „dazu nehmen Sie unten ein paar Blätter ab. Und dann sollten Sie jetzt alle zwei bis drei Tage nach den Zucchini schauen und ernten. Wenn Sie da eine Woche oder länger warten, dann haben Sie“ – er breitet die Arme aus – „solche Riesenapparate!“ Ja, kommen denn noch welche nach? „Ja, das kann bis in den herbst gehen.“

Dass der Spinat dringend abgeerntet werden soll, stand schon im aktuellen Newsletter, und auch nach den Kartoffelkäfern soll ich nochmals schauen. Herr Kötter wirft noch einen Blick auf das vernachlässigte Nachbarbeet, wo immerhin schon ein bisschen passiert ist. Ein Teil sieht recht aufgeräumt aus, in einem anderen wuchert das Unkraut. Seltsame Vorgehensweise. An einer Stelle ragt einsam eine Pflanze in die Höhe und weist etwa 20 bis 30 cm über dem Boden an- und abgefressene Blätter auf. „Raten Sie mal, welches Tier hier geknabbert hat“, sagt Herr Kötter. „Würmer oder Läuse waren’s sicher nicht, das muss schon ein größeres Tier gewesen sein“, antworte ich, stolz auf mein feines detektivisches Gespür. „Richtig, das war ein Hase. Melde heißt diese Pflanze, und die fressen Hasen besonders gern. Na dann, viel Spaß noch, ich muss mal weiter zum nächsten Beet.“

 

Eigentlich hatte ich nur schnell ein bisschen ernten wollen, aber jetzt stehen doch ein paar dringende Arbeiten an. Bändchen für die Tomaten habe ich keine dabei, so ein Mist. Was also tun? Ich mache auf McGyver, schneide kurzentschlossen eine Plastiktüte in kleine Streifen und binde damit die Tomatenpflanzen an den Spiralstangen fest. Langfristig wird das nicht reichen, aber in den nächsten Tagen soll ordentlich die Sonne scheinen. Falls die kleinen Patienten durchkommen, kann man immer noch einen Schutz aufbauen. Es folgt ein weiteres Kartoffelkäfermassaker, dem ich mich schon mit etwas größerer Gelassenheit stelle. Der abgeerntete Spinat füllt eine große Tüte, dasselbe gilt für die restlichen Salate. Ein paar Zuckererbsenschoten fülle ich in eine kleine Extratüte – noch ohne Ahnung, was genau man damit macht. Kohlrabi ernten ist ähnlich wie Salat ernten – man schneidet die Knolle auf der Unterseite, also über der Erde ab. Eine ganz schön zähe Angelegenheit, wenn das Messer eher stumpf ist. Nach eineinhalb Stunden harter Arbeit bei schönem Wetter steige ich erschöpft, aber einmal mehr zufrieden ins Auto. Zu Hause heißt es dann: Salat schnippeln, Spinat blanchieren und einfrieren, und den Kohlrabi gleich dazu. Denn gärtnern beginnt im Kopf, nimmt auf dem Beet Gestalt an und hört in der Küche noch lange nicht auf.

Wunschbeet mit Tomaten

Gefesselte Patienten

3 Gedanken zu „Tomatendämmerung

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